Teilbetrachtung
29.
Oktober
2025
Teilbetrachtung
觀看的局部
- Blute ich, läuft es nicht einfach
- an den Innenseiten der Oberschenkel hinunter, unter der Dusche, dunkelrote Blutzellen, wie die Adern eines Blattes,
- verklumpen, verblassen
- als stünden sie unter Druck
- der Bauch eine einzige offene Wunde, die Vagina welkt, das Ei löst sich auf, ich spüre, wie sich eine Blüte in mir öffnet. So ist das Leben.
- Wenn ich mich drehe, zieht es in der Hüfte
- die Leere zwischen den Schamlippen
- zittert, pulst
- die Gebärmutter bläht sich auf
- gewinnt an Kraft, dieser Zustand
- entlockt mir zum ersten Mal ein Wimmern – ein kleiner Muskel zieht sich zusammen, auseinander
- wieder wabern Schmerzwellen
- durch mein Hirn, pressen die Organe
- zusammen. Auch so ist das Leben, und
- als ich die Haut abwasche, fließen Flecken
- an mir herunter,
- kleine Klumpen reihen sich wie
- Rosenblüten an einer Kette, so unschuldig,
- weil es in mir brodelt, spüre ich
- in diesem Augenblick einen Stich:
- „Weil es im Leben oft in Vergessenheit gerät.“
- Weil es zurückgehalten wird
- weil es Mitleid erregt
- diese Last in all den Jahren.
- Zwischen heimlichem Gehorsam und Tadel rügen dich manche, andere beißen die Zähne zusammen. Manchmal bin ich mir deshalb selbst meine Muse.
- „Zum Lachen brauche ich keine Erlaubnis.“ Das ist
- Freiheit, fließend wie kristallklares Wasser,
- eine Ahnung, unwiderruflich,
- und ich rufe, Muse, manchmal bin
- ich es selbst -
Moos
苔蘚
- In meinem Herzen, das Herz eines Bastards,
- steht eine Mauer,
- darin eingemeißelt: Liebe und Freiheit.
-
Ich will beides.
- Wenn du dich so einkapselst, scheinst du wie tot
- aus der zertrampelten Erde sprießen
- Triebe mit flachen Wurzeln, wachsen vor sich hin,
- ihre Kraft ungebrochen. Zwischen Augenblicken der
- Erleuchtung fehlen dem Wind die Worte
-
ihre Schönheit zu besingen.
- In einem unbewussten Augenblick spielt jemand
- die Andante spianato von Chopin
- zu Ende. Jemand hört zu
-
das Morgenlicht wellengeriffelt.
- Aus: Forest Lin 原光 [Urlicht], Shibao Wenhua Chubanshe, 2025
Forest Lin
Geboren im Frühling 1999 in Taipeh, studierte Philosophie und liebt Mahler, schreibt Essays und Gedichte sowie Musikkritiken mit Schwerpunkt klassischer Musik. Und: «Beim Spazierengehen nachdenken, im Kaffee sitzen und Menschen beobachten, vor dem Einschlafen Gedichte schreiben, im Traum die Realität vorwegnehmen.» Für ihren zweiten Gedichtband 原光 erhielt sie 2024 den Yang-Mu-Preis. Ihre Poesie zeichnet sich durch assoziative Traumsequenzen aus, die cineastisch choreografiert sind.Alice Grünfelder
Schriftstellerin (u.a. Wolken über Taiwan, Jahrhundertsommer), auch Übersetzerin von moderner Literatur aus Tibet und Gedichten aus Taiwan, 2024 erschien bei Hochroth Leipzig z.B. der Band Küsten mit den Meeresgedichten von Tsai Wan-Shuen.Magazin für Algorithmen Magazin für Algorithmen Magazin für Algorithmen
Kommentar
Maria Marggraf
geb. 1991, lebt in Basel. Produktionsleiterin des Lyrikfestivals Basel und literarische Stadtführerin. Sie arbeitet gerne gattungsübergreifend, entwickelte u.a. für die Zentrale für Umweltausstellungen das Insektenorakel. 2022 erschien ihr Debüt «am morgen der schildkrötenpanzer» (bübül Verlag). Der Text «Invasive Arten» erhielt einen Förderpreis der Wuppertaler Literatur Biennale 2024. Im Frühjahr 2026 erscheint der Lyrikband «ich aß dein kraut» bei pudelundpinscher.
29.
Oktober
2025 |
Maria Marggraf im Netz
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In Forest Lins Gedichten entwachsen Menschen wie Pflanzen ihren inneren Konflikten. «Teilbetrachtung» widmet sich der sorgfältigen Beobachtung einer Menstruation. Die Stimme des Gedichtes erzählt uns, welche körperlichen und seelischen Prozesse die Monatsblutung in ihr auslöst. Der menstruierende Körper wird ungeschönt sichtbar gemacht – «die Gebärmutter bläht sich auf», «der Bauch ist eine einzige offene Wunde» –, doch die sprechende Figur nimmt ihren Körper an: «So ist das Leben.» Forest Lin hält der Stigmatisierung des Zyklus als unästhetisch oder gar unrein eine liebevolle Betrachtungsweise entgegen, die auch dessen Schönheit sieht. Im menstruierenden Körper öffnet sich eine Blüte; das Blut, das die Beine hinunterrinnt, gleicht Blattadern oder einer Kette von Rosenblüten.
Die Periode löst jedoch auch bedrückende Gefühle aus. Von anderen Menschen kann die betroffene Person keine Unterstützung erwarten, sondern vor allem Tadel und die Ermahnung zu Gehorsam. Doch sie findet Kraft in sich selbst. Das Lachen kann ihr niemand nehmen. Der unter Schmerzen abfließende Blutstrom macht dem kristallklaren Wasser der Freiheit Platz.
Starke Gefühle kommen auch in «Moos», Forest Lins zweitem Gedicht, zur Sprache. Das lyrische Ich quält sich ob der von ihm empfundenen Unvereinbarkeit von Liebe und Freiheit. Es hat einen Schutzwall in seinem Herzen errichtet. Wieder ist es eine Pflanze, die diesen inneren Konflikt erlebbar macht. Das Selbst des Gedichtes sprießt «wie tot aus der zertrampelten Erde» und droht an der scheinbar unumgänglichen Entscheidung für einen der beiden Pole zu zerbrechen. Doch es hat das Herz eines Bastards – es wird sich den unverrückbar wirkenden Grenzen und Normen nicht beugen. Wie Moos zeigt es sich resilient gegen die Tritte des Schicksals; die Kraft der Triebe ist ungebrochen. Das Gedicht endet in einer zarten Morgenstimmung zu Chopin-Musik, die eine versöhnliche Auflösung der Situation verspricht.
Die Figuren beider Texte erzählen von der Rückbesinnung auf ihre widerständige Natur, die sich gegen äußere Konventionen behauptet und die eigene Zerrissenheit überwindet. Sie erzählen uns von der Möglichkeit, die Schönheit in schmerzvollen Erfahrungen zu sehen. Darin liegt vielleicht die größte Hoffnung, die uns diese Gedichte mitgeben können.